Seit den 70er-Jahren existiert in Korsika neben den bewaffneten und vermummten Männern der Korsischen Nationalen Befreiungsfront (FLNC) auch ein feministischer Nationalismus. Heute sind die Donne di Manca die einzige Gruppe, die sowohl für die Emanzipation der Frauen als auch für die Autonomie der Insel kämpft.
Sie ist fast genauso alt wie die FLNC (Korsische Nationale Befreiungsfront): Anne-Laure Cristofari wurde 1978 geboren, zwei Jahre nach der Gründung der berüchtigten Bewegung, die für die Unabhängigkeit der Insel kämpft. Und drei Jahre nach der Besetzung von Aléria, einem Dorf im Departement Haute-Corse, Schauplatz des Gefechts zwischen der nationalistischen Bewegung ARC (Aktion für die Wiedergeburt Korsikas) von Edmond Simeoni und der französischen Armee. Ein blutiges Ereignis, das den Beginn des zähen Ringens zwischen dem französischen Staat und den korsischen Separatisten markiert.
Anne-Laure Cristofari verfolgt den bewaffneten Kampf für die Unabhängigkeit als Heranwachsende von ihrem damaligen Wohnort Paris aus. Sie versteht nicht alles, was auf ihrer heimatlichen Insel vor sich geht, unterstützt die Sache jedoch und fühlte sich schon in jungen Jahren als Korsin. „In Paris fühlte ich mich als Binnenmigrantin. Als kleines Mädchen wollte ich wieder nach Hause“, erzählt sie mit leuchtenden Augen.
Mit den Großdemonstrationen von 1989 fordern (und erhalten) die Korsen eine Beihilfe für die hohen Lebenshaltungskosten. „Die Rede war von der ‘Islo murto’, der toten Insel. Ich war damals 11 Jahre alt und verstand nicht, wie eine Insel tot sein konnte. Mein Vater sah die Gewalt gegen das Festland sehr kritisch. Ich stellte mir Fragen. Ich rebellierte gegen alles, was mit dem Patriarchat zu tun hatte.“
Zurück zu den Wurzeln
In den 90er Jahren spaltet sich die FLNC; die Folge ist eine auf der Insel noch nie dagewesene Welle der Gewalt mit 600 Anschlägen pro Jahr und Kämpfen bis aufs Blut zwischen den beiden verfeindeten Flügeln der FLNC, dem Canal historique und dem Canal habituel. Anne-Laure erlebt diese bleiernen Jahre zwischen Angst und „dem Wunsch zu begreifen, wie Menschen aus einem Volk, das sich behaupten möchte, einander töten können.“ Als 1998 der Präfekt Erignac vom Unabhängigkeitskämpfer Yvan Colonna, genannt „der Hirte von Cargese“, ermordet wird, ist sie in der Vorbereitungsklasse für das Studium an der Grande École. „Ich spürte, dass eine Grenze überschritten worden war. Ich hatte Angst, es würde nun heißen, alle Korsen seien verantwortlich für seinen Tod.“
2005 lässt sie sich in Calvi nieder, schließt sich der linken Bewegung A Manca an und setzt sich mit dem Thema der Unabhängigkeit auseinander. „Ich bin ein Kind der Bewegung ‘Riacquistu’, was auf Korsisch Wiederaneignung bedeutet“, erklärt sie stolz. „Diese kulturelle und politische Strömung fordert seit den 70er-Jahren eine Rückkehr zur korsischen Identität.“ Sie liest, erweitert ihr Netzwerk und formt ihre nationalistisch-feministische Einstellung.
„Ich bin keine Nationalistin, die sich nur auf die eigene Identität bezieht.“
Anne-Laure gehört zur von der FLNC geprägten Generation, die mit Geschichten von Aktionen der militärischen Untergrundbewegung aufgewachsen ist. Irre oder Helden, je nachdem. Um sie herum ist von nichts anderem die Rede. Kommandoaktionen, brennende Strohhütten und Villen, Anschläge gegen Symbole des Staates und die berühmten „blauen Nächte“, jene Serie von Anschlägen, die jedes Jahr auf ganz Korsika in derselben Nacht stattfinden.
Die FLNC hat in 40 Jahren auf der Insel in fast 9.000 Fällen Plastiksprengstoff eingesetzt. Anne-Laure unterstützt sie noch heute, trotz der Toten, der Festnahmen und der Auswüchse der Klan-Rivalitäten. Im korsischen Hinterland, wo gewundene Straßen zu versteckten Bergdörfern führen, sind die Spuren der bewaffneten Unabhängigkeitsbewegung noch deutlich sichtbar: von Kugeln durchlöcherte Schilder, durchgestrichene und durch die korsische Version ersetzte französische Ortsnamen, nationalistische Slogans etc.
Anne-Laure wünscht sich eine Gleichberechtigung des Französischen und Korsischen in der Verwaltung und lehnt jede Bevormundung durch das Festland ab. Ihre Einstellung macht ihrer Familie Angst, die versucht, ihr einen Riegel vorzuschieben. „Mein Vater hat immer gesagt: ‘du gehst zu weit, ist dir bewusst, welchen Ärger du riskierst?’, aber ihm ist schnell klar geworden, dass er mich nicht aufhalten kann.“ Auf eines legt sie Wert: „Ich bin keine Nationalistin, die sich nur auf die eigene Identität bezieht. Lieber bezeichne ich mich als Autonomistin im Sinne eines ‘padrio’ – das ist im Korsischen die liebevolle Bezeichnung für Patrioten.“
Wenn sie heute durch die Straßen von Calvi geht, grüßt sie hier den Betreiber des Hotels Belvedere und dort einen ihrer Schüler freundlich auf Korsisch. Alle kennen sie hier. Die junge Frau unterrichtet Geschichte und Geographie am Collège, sowohl in den klassischen als auch in den bilingualen Zweigen „mit einer nationalistischen Ader.“
Eine Kultur der Männlichkeit
Bei den Treffen der Aktivisten von A Manca, denen sie sich mit 27 Jahren anschließt, spürt Anne-Laure Cristofari, dass sie einen von Männern dominierten Raum betritt, „mit einer Kultur der Männlichkeit, in der der Mann sich bewaffnet in die Büsche schlägt, während die Frau brav zu Hause bleibt.“ Das regt sie auf.
Die Anthropologin Caroline Torres, die an der Universität Korsika zu feministischen und nationalistischen Bewegungen promoviert hat, bestätigt: „Die meisten Frauen innerhalb der FLNC haben im Hintergrund gewirkt. In ihren Händen lag vor allem die für den Kampf wichtige Logistik.“ Waffen aufbewahren, Kämpfer verstecken, Informationen sammeln. Wichtige Aufgaben, doch im Verborgenen.
Dominique Giacomoni, 62 Jahre alt, Aktivistin bei den Donne di Manca und Freundin von Anne-Laure Cristofari, war Mitglied der ersten feministisch-nationalistischen Gruppen in den 80er-Jahren. Eines Tages fuhr sie an der Spitze einer Kolonne von Autos, die den Kämpfern Sprengstoff brachten, „und hinten saß mein Sohn“, erinnert sie sich. „Ich konnte es nicht mehr ertragen, wie sich meine Eltern dem französischen Staat und den Gesetzen des Clans unterworfen haben.“ Mit „Clan“ sind die Reichen und Mächtigen gemeint. Germaine de Zerbi, Gründerin der Bewegung Donne Corse und Symbolfigur des feministischen korsischen Nationalismus, formulierte es so: „Die Gewalt des Clans ist stärker als die von Sprengstoff.“
Die 1981 gegründete Bewegung Donne Corse hatte damals das Ziel, Feminismus, Nationalismus und Sozialismus zu vereinen. Eine schwierige Aufgabe. „Der Feminismus wird misstrauisch beäugt,“ erklärt Caroline Torres. „Häufig wird er als fremdes Konstrukt betrachtet, das aus Frankreich oder von anderswo kommt und nach Korsika nicht passt, weil es hier nicht gebraucht wird.“
„In unserer mediterranen Kultur hängen wir dem Glauben an, dass die Frauen hier besser als auf dem Festland behandelt werden“, bemerkt Anne-Laure Cristofari ironisch. Die Frau ist in erster Linie eine Mutter, die Leben schenkt und beschützt werden muss. Noch heute haben Brüder, Väter und Cousins stets ein Auge auf die Verehrer der Frauen in der Familie. Rosy Sarrola, Leiterin des NGOs ‚Femmes solidaires de Corse‘, behauptet dass jedes Jahr etwa 500 korsische Frauen Anzeige wegen ehelicher Gewalt erstatten – das sind über 10% der Bevölkerung, eine Zahl, die über dem nationalen Durchschnitt liegt. Auswirkungen des Patriarchats, die Anne-Laure Cristofari in ihrer Entschlossenheit bestärkt haben.
„Wir waschen und bügeln die Sturmhauben“
Im Frühjahr 2019 gründet sie die Frauen vorbehaltene feministische Sektion der Bewegung Donne di Manca. Zur Gruppe gehören momentan fast 30 Frauen im Alter zwischen 25 und 60 Jahren von der ganzen Insel, aber Anne-Laure möchte politisch noch mehr bewegen. „Auslöser war der Mord an Julie Douib in L’île-Rousse im März 2019.“
Laut dem Verein Femmes Solidaires Corse war es auf der Insel der achte Frauenmord der letzten Jahre. Schluss mit acqua in bocca, ein korsischer Ausdruck, der „Wasser im Mund“ bedeutet – Wasser, das am Sprechen hindert. „Ich war der Meinung, dass sich die Mentalität ändern muss. In der Schule sehe ich auch, dass Mädchen den Rucksack ihres Freundes tragen.“
Seit 2017 mit Gilles Simeoni, der ehemalige Bürgermeister von Bastia und Anwalt des Mörders von Präfekt Erignac, ein waschechter Nationalist zum Präsidenten des Exekutivrats gewählt wurde, sind in der Lokalpolitik mehr Frauen vertreten. Ein Fortschritt für Anne-Laure, die jedoch bedauert, dass die Satirezeitung A piazzetta das Foto der in die Versammlung gewählten nationalistischen Frauen mit der Bildbeschreibung „Les Simeonettes“ versehen hat.
An der einzigen Universität der Insel mit Sitz in Corte finden die Treffen der Donne di Manca noch unregelmäßig statt und Anne-Laure muss sich auch mit Studentinnen treffen, die Mitglied nationalistischer Verbände sind. „Am Anfang dachte ich: super, Aktivistinnen! Schnell habe ich begriffen, dass es sich um die Partnerinnen der Leader handelte. Sobald ich mit den Männern sprach, verschwanden die Frauen. Ich wollte ihnen sagen: ‘Hört auf, euch wie Groupies zu benehmen, die die Sturmhauben waschen und bügeln! Ihr habt ebenso wie sie das Recht zu kämpfen!’“
Das Wort ergreifen – das ist die Idee hinter Donne di Manca. Die Aktivistinnen tauschen sich über Probleme der Frau auf Korsika aus und überlegen, wie sich mehr Gleichheit erreichen lässt. Auf der Tagesordnung steht die Umsetzung der allerersten Aktion der Gruppe: „eine Plakatkampagne in korsischer Sprache in den Städten Bastia, Calvi, Ajaccio und Porto-Vecchio, mit Slogans zum Thema Gewalt gegen Frauen.“
Es wird Nacht auf der Insel der Schönheit. Anne-Laure nutzt die Taschenlampe ihres Handys, um die Treppe zu ihrer Wohnung zu beleuchten. Sie wohnt allein mit ihrer Katze Libbecciu bescheiden aber gemütlich auf 39 m², hoch über der Zitadelle, als wollte sie alles im Auge behalten, was ringsherum passiert. Als ledige und kinderlose Frau stößt sie oft auf Feindseligkeit, auch von nahestehenden Personen. „Du bist so eigenständig, aktiv und engagiert, dass du den Männern Angst machst“, heißt es dann.
Sie zählt darauf, dass die Nationalisten an die Macht kommen, also den Untergrund verlassen und Zugang zum abgeschotteten Halbrund der Politik erhalten. Sie weiß, dass eine völlige Unabhängigkeit Korsikas nicht denkbar ist. „Wir sind nicht Katalonien, eine der reichsten Regionen Spaniens, nicht nur durch den Tourismus, sondern auch durch die in Barcelona ansässigen großen Unternehmen. Näher sind wir dem Süden Italiens mit seinen wirtschaftlichen Schwierigkeiten.“
Manchmal träumt sie von einer Art Mittelmeerbund. „Ein Europa gemeinsam mit den anderen Mittelmeerinseln, fern von der Absurdität dieses liberalen Europas, das den Menschen in den Schatten stellt. Ein Bund von Völkern, die sich ähnlich sind. Uns trennen nur 12 km von Sardinien, territorial wäre das absolut sinnvoll.“
Wenngleich die FLNC die Waffen im Jahre 2014 offiziell niedergelegt hat, ist der Kampf nicht vorbei. Im Oktober 2019 verkündete eine Gruppe, die sich als die neue FLNC darstellt, die Wiedergeburt der Bewegung. „Das sind keine Nationalisten, das sind rechtsextreme Faschisten“, seufzt Anne-Laure. Erneute bewaffnete Konflikte auf der Insel hält sie für wenig wahrscheinlich. Sie versichert jedoch: „Wenn es dazu kommt, werde ich sofort zu den Waffen greifen.“ Autonomie der Insel oder Emanzipation der Frau: Anne-Laure gibt nicht auf.
Pantaléon Alessandri, 65 Jahre alt, ist einer der Gründungsväter der FLNC. „Feministinnen gründeten noch vor der FLNC im Jahre 1972 oder ’73 die Gruppe ‘E calze rosse’, die roten Socken. Im Kampf sind Frauen selten anzutreffen. Sie wurden vor allem als Fahrerinnen eingesetzt, da man ihnen weniger misstraut. Wenn sie Waffen oder Munition transportierten, platzierten sie Tüten mit Brot oder Kindersitze im Auto. Eine gewisse Schwelle der Gewalt wie die Teilnahme an Kommandoaktionen haben wir sie nie überschreiten lassen. Dies hängt sicherlich mit unserer Kultur zusammen, wo die Frau in erster Linie eine Mutter ist, die Leben schenkt und beschützt werden muss.“