Frauen, die abtreiben, drohen auf Malta bis zu drei Jahre Haft. Seit der Eingriff im vergangenen Jahr in Irland durch ein Referendum legalisiert wurde, konzentrieren sich Online-Hilfsangebote nun auf die Mittelmeerinsel. Im Internet kämpfen konservative wie progressive Gruppen um die Werte einer Gesellschaft im Wandel.
Dass sie in Malta für eine Abtreibung ins Gefängnis kommen könnte, wusste Julie Borg nicht, bis sie selbst im Herbst 2018 schwanger wurde. „Als ich herausfand, wie verboten es hier ist, bekam ich Panik“, erinnert sie sich. Sie kaufte einen zweiten Test. Als der Stab erneut ein „YES“ anzeigte, klappte sie den Laptop auf, um ihre Optionen zu recherchieren.
Im Frühjahr 2017 war Julie auf die Insel im Mittelmeer gezogen. In der Türkei wurde es ihr nach dem Militärputsch im Sommer 2016 zu eng. In den Köpfen der Menschen und in der Wohnung mit ihrem Mann, Adrian. Die Liebe war schleichend entschwunden, wie die Luft aus einem billigen Heliumballon. Julie hätte sich einen Knall gewünscht, ein richtiges Ende. Dazu kam es aber nie. Bis heute drücken sich die beiden davor, ihrem vierjährigen Sohn von ihrer Trennung zu erzählen.
Julie hatte bereits einen neuen Partner gefunden, bei Adrians Besuchen spielten die beiden dennoch die heile Familie. Manchmal so glaubwürdig, dass sie selbst sogar ein bisschen daran glaubten und wieder miteinander schliefen. Als Julie im Herbst 2018 erneut schwanger wurde, war sie sich nicht sicher, welcher der beiden Männer der Vater wäre. Beide hätten von der Schwangerschaft nie erfahren, hätte Julie legal abtreiben können. „Mein Beziehungsmanagement wäre meine Privatsache geblieben“, sagt Julie, „so aber begann die schlimmste Woche meines Lebens.“
Alleingelassen mit dem Internet
Als Julie „Abtreibung Malta“ in die Suchmaschine eingab, fand sie: nichts. Statt Beratungsangeboten fand sie katholische Seiten von selbsternannten „pro-Life“ Aktivisten. Als alleinerziehende Mutter mit Vollzeitjob – fern von ihrer Familie, ohne stabile Partnerschaft – habe sie keine Sekunde an ihrer Entscheidung gezweifelt. Sie ließ sich krankschreiben und verbrachte eine Woche vor dem Computer, klickte sich durch Foren und las über alternative Abtreibungsmethoden.
Sie trank literweise Petersiliensud, aß Ingwer und Papayakerne, schluckte mehr Aspirin, als der Körper eigentlich verträgt. „Ich dachte wirklich an dieses stereotype Szenario mit dem Kleiderbügel“, erinnert sie sich, „ich war bereit, alles zu tun. In dieser Woche zu Hause hatte ich suizidale Fantasien. Mein Kopf drehte sich nur um diesen einen Gedanken: Es muss weg.“ Eine Freundin erzählte ihr schließlich, wie andere Frauen es auf Malta machen: Für eine Abtreibung verlassen sie die Insel.
Maltas Abtreibungsgesetz ist das strengste in ganz Europa. Der Katholizismus ist hier in der Verfassung als Staatsreligion festgehalten. Während in anderen europäischen Ländern wie Polen, Andorra oder Monaco der Abbruch erlaubt ist, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist oder ein Gewaltverbrechen vorliegt, bleibt der Eingriff in Malta auch unter diesen Umständen illegal.
Frauen, die es sich leisten können, fliegen für eine Abtreibung nach Deutschland, Belgien oder England. Andere nehmen die Fähre nach Sizilien, gehen dort in Privatkliniken und kehren am gleichen Tag noch nach Malta zurück. Laut Schätzungen der maltesischen Grünen Partei verlassen etwa 300 bis 500 Frauen jährlich die Insel, um eine Abtreibung durchführen zu lassen. Vor etwas über einem Jahr hat sich die Lage aber drastisch geändert: Maltesische Frauen können die Abtreibungspille nun auch online bestellen.
Das hat mit einer Volksabstimmung auf einer anderen Insel zu tun, 2.500 Kilometer entfernt: Irland. Am 25. Mai 2018 stimmten 66,4% der irischen Wählerschaft dafür, das absolute Abtreibungsverbot aus der Verfassung zu streichen. An dessen Stelle gilt in Irland nun ein Gesetz, welches Abtreibung unter bestimmten Bedingungen erlaubt: In den ersten zwölf Schwangerschaftswochen sowie später, wenn das Leben der Mutter in Gefahr ist oder beim Fötus bestimmte Anomalien festgestellt wurden.
Seitdem bietet das in Großbritannien ansässige „Abortion Support Network“ (ASN) seine Beratung auch in Malta an. Online und anonym. Ein Novum auf der Mittelmeerinsel, auf der sich 90 Prozent der Einwohner als katholisch identifizieren und es gleich viele Kirchen wie Quadratkilometer gibt. Die Pille danach ist in Malta erst seit drei Jahren erhältlich. Die einzige Apotheke, die auf der Insel 24 Stunden geöffnet hat, ist eine von vielen, welche die Pille danach „aus moralischen Gründen“ nicht verkauft.
Das ASN Netzwerk verkauft keine Abtreibungspillen. Letztere werden von Women on Web, einer in den Niederlanden registrierten NGO, verschickt.
Die Abtreibungspillen, die die NGO Women on Web verschickt, werden hingegen häufig vom Zoll abgefangen. Sie kommen in unscheinbaren, wattierten Umschlägen, eingeschweißt in silberner Folie, übersät mit Stempeln all jener Länder, über die sie ihren Umweg nach Malta antraten. Manchmal stecken sie zur Tarnung in einem Spielzeugkarton. Eine Packungsbeilage ist nie dabei. Die wird den Frauen zusammen mit einem ärztlichen Fragebogen per E-Mail zugesendet.
„Es ist immer gefährlich, Medikamente online zu bestellen“, sagt Elena Saliba, „man weiß nie, was man bekommt.“ Die Ärztin arbeitet in der Kinderabteilung des einzigen staatlichen Krankenhauses auf Malta. „Zu uns kommen Dreizehnjährige, die vergewaltigt wurden, Risikoschwangerschaften und Anomalien bei Embryos, die zum sicheren Tod des Kindes bei der Geburt führen. Dennoch dürfen wir Abtreibung nicht als Option vorschlagen“, sagt sie.
„Frauen werden immer abtreiben, ganz egal ob es legal ist oder nicht. Sie sollten dafür nicht ihr Leben riskieren müssen.“
Als sich im Frühjahr das erste „Pro-Choice“ Bündnis für das Selbstbestimmungsrecht der Frauen über Abtreibung in Malta zusammenfand, gründete die 33-Jährige deshalb mit anderen Ärztinnen die Gruppe „Doctors pro Choice“ und schloss sich der Initiative an. Kurz darauf sammelte ihr Vorgesetzter im Krankenhaus Unterschriften gegen sie. Alle, bis auf einen Kollegen, unterschrieben. Saliba ließ sich nicht einschüchtern: „Hier geht es um das Wohl der Patientinnen. Frauen werden immer abtreiben, ganz egal ob es legal ist oder nicht. Sie sollten dafür nicht ihr Leben riskieren müssen.“
Die Anzahl ungewollter Teenager-Schwangerschaften in ihrer Abteilung sei sichtlich zurückgegangen, seit es die Beratung von ASN gibt. Saliba vermutet, dass besonders junge Frauen die medikamentöse Mischung aus Mifepristone und Misoprostol online bestellen. Die Gefahr: Eine medikamentöse Abtreibung ist nur bis zur achten Schwangerschaftswoche möglich, zudem können schwere Krämpfe und Blutungen auftreten.
Die Macht der Kirche
Online gäbe es keine Kontrolle darüber, ob Frauen nicht auch in viel fortgeschrittenen Schwangerschaften noch das Mittel benutzten. Das könne das Leben der Frau aufs Spiel setzen. Kaum eine Frau traue sich, mit den Nebenwirkungen einen Arzt aufzusuchen. Dadurch bliebe auch ein Beratungsgespräch aus, das zukünftige ungewollte Schwangerschaften verhindern könnte.
„Das Problem ist nicht nur das Stigma, das Frauen davon abhält, ärztlichen Rat zu suchen, sondern auch die mangelnde sexuelle Aufklärung in den Schulen“, sagt Saliba. In ihrem Medizinstudium wurde das Kapitel „Abtreibung“ einfach übersprungen. Die katholische Kirche betreibt zwei Drittel der maltesischen Bildungseinrichtungen. Saliba lernte als junges Mädchen im Sexualkundeunterricht, dass Enthaltsamkeit die beste Form der Verhütung sei.
Der Katholizismus ist in der Verfassung von Malta verankert. Die Insel hat die strengsten Anti-Abtreibungsgesetze in ganz Europa.
Wer nicht aus Malta kommt, kennt meist Strandpartys und Luxusyachten – das Stigma das besonders Frauen betrifft, bleibt hinter der glitzernden Fassade verborgen. Mehr als zwanzig Prozent der 500.000 Einwohner Maltas kommen aus dem Ausland. Dass diese auch einen anderen Blick auf die Welt mitbringen, beunruhigt das konservative Malta der Marienbilder, Kruzifixe und Kathedralen. Erst 2011 wurde auf der Mittelmeerinsel die Scheidung legalisiert – bis dahin war Malta gemeinsam mit den Philippinen und dem Vatikanstaat bloß das dritte Land weltweit, in dem es diese Möglichkeit nicht gab. Seit 2014 können gleichgeschlechtliche Paare offiziell eine Lebenspartnerschaft eingehen.
„Unser Malta ist nicht mehr, was es mal war“, sagt die Sekretärin der Organisation „Life Network Malta“. „Wir werden jetzt progressiv“, sagt sie, als sei es eine Beleidigung. Ihre Chefin, Miriam Sciberra, die alle hier „Dr. Miriam“ nennen, sei eine der Wenigen, die sich gegen den „Verfall der Gesellschaft“ einsetzten. Vor fünf Jahren gründete Sciberra, neunfache Mutter und von Beruf Zahnärztin, den Verein „Life Network“. Online bietet die Organisation eine Hotline an. Im letzten Jahr habe die Organisation auf diese Weise sieben Babys „gerettet“, sagt Sciberra. „Gerettet“ nennt sie es, wenn Frauen dazu gebracht wurden, sich gegen eine Abtreibung zu entscheiden.
Kleine Insel, großer Kulturkampf
An maltesischen Schulen wird die Organisation für den Sexualkundeunterricht gebucht, sie selbst laden berühmte Abtreibungsgegner aus den USA für Vorträge an der Universität ein. Sciberra ist vernetzt mit Anti-Abtreibungsaktivisten in ganz Europa, besucht Fortbildungen in Serbien und Rumänien. Für ein Interview in ihrem Büro im Herzen der Hauptstadt Valletta zieht Sciberra ihren roten Mantel nicht aus. Sie ist knapp angebunden.
Es gäbe Dinge, über die diskutiere sie nicht mehr: „Abtreibung ist Mord“, der „Genozid der Ungeborenen“ und das „Trauma der Abtreibung“, das schlimmer sei als eine Vergewaltigung. Seit sich Malta der EU öffne, würden auch die „Mainstream-Medien“ eine „Abtreibungslobby“ befördern. Im anschließenden Gottesdienst zum fünfjährigen Bestehen der Organisation betet Sciberra auf den Knien für die Kinder, die nie geboren wurden.
Aber selbst diese Kontroverse zeigt schon ein anderes Malta, als jenes das Julie Borg vor über einem Jahr noch kennengelernt hat. Hätte Julie heute, ein Jahr nach ihrer ungewollten Schwangerschaft, in Internet nach „Abtreibung“ auf Malta gesucht, hätte sie vielleicht die Seite von ASN gefunden. Hätte sie weiters dann eine Nachricht an „Doctors Pro Choice“ geschrieben, wäre ihr vielleicht eine Homepage empfohlen worden, auf der sie die Abtreibungstabletten sicher bestellen hätte können. Doch all das gab im Herbst 2018 noch nicht, als Julie mit dem Test in ihrer Hand kurz bereit war, alles zu tun, um die Schwangerschaft zu beenden.
Davor war ihr sexuelles Leben immer nach Plan verlaufen. Mit 18 wollte sie Sex haben; noch in der Nacht auf ihren Geburtstag schlief sie zum ersten Mal mit einem Mann. Nach der Hochzeit mit Adrian wollte sie ein Kind; wenige Monate nach der Trauung war sie schwanger. Als sie merkte, dass die Liebe nicht mehr reichte, fand sie einen neuen Liebhaber. Ein weiteres Kind passte nicht in ihren Plan.
„Ich wurde wütend auf dieses Land, das es mir verbietet, meine eigene Entscheidung zu treffen. Ich wurde wütend auf mich selbst, dass ich meinem Körper heimlich all diese ungesunden Dinge antat. Ich wurde wütend auf diese Gesellschaft, die mich zwang, mein Umfeld anzulügen“, sagt sie. Ihre Wut war es auch, welche die Angst verdrängte.
Nach einer Woche voller Magenkrämpfe und Schlafmangel erzählte Julie schließlich beiden Männern von der ungewollten Schwangerschaft. Es war die achte Woche. Auf der Arbeit gab sie vor, krank zu sein. Ihrem Vater erzählte sie, ein Termin in Brüssel stünde an, er müsse zum Babysitten nach Malta kommen. Eine Cousine organisierte den Termin in der Türkei, Adrian kaufte das Flugticket. Er musste im Krankenhaus unterschreiben, dass er als Ehemann die Abtreibung erlaube. Der Eingriff dauerte weniger als eine Stunde und kostete rund 300 Euro. Freundinnen holten sie vom Krankenhaus ab. Danach tranken sie Raki.
In weniger als 48 Stunden war Julie Borg zurück in ihrem alten Leben. Sie habe die Kontrolle zurückgewonnen, sagt sie heute. Bereut habe sie ihre Entscheidung nie.